15.02.–21.06.2020

degree_show – out of KHM

Ein Kohlebergbauloch auf einer Videoleinwand in der Verjüngung des KIT

Viktor Brim, Dark Matter, 2020, Foto: Ivo Faber

Céline Berger, András Blazsek, Viktor Brim, Anna Ehrenstein, Kerstin Ergenzinger, Denzel Russell, Søren Siebel presents Bas Grossfeldt

Die Künstlerinnen und Künstler der degree_show – out of KHM reagieren mit ihren Werken auf gesellschaftliche und natürliche Entwicklungen unserer Zeit. Beobachtung, Recherche, persönliche kulturelle Hintergründe und die Nutzung sämtlicher Medien stehen am Anfang ihrer Arbeit, deren Themen natürliche und menschliche Ressourcen, Tradition und deren Umdeutung, Ausbeutung und Kapitalismus sind.

Alle in der Ausstellung gezeigten Filme, Bilder, Performances und Installationen greifen die Beziehung zwischen Menschen und Orten auf. Sie erzählen Geschichten von Arbeitern, Gefangenen, Künstlern und unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, sie handeln von der Zerstörung der Natur und ihrem Einfluss auf das menschliche Leben. Die Ausstellung informiert, sie hinterfragt alltägliche Muster und gibt der Sehnsucht nach dem Wesentlichen Raum: So kann sich der Besucher am Ende des Raumes von Klang und Bewegung, von Regen und Wind davon tragen lassen und das Gesehene und Gehörte reflektieren.

Die Schau vereint zeit- und medienbasierte (Abschluss-)Arbeiten von Studierenden und Absolventen der Kunsthochschule für Medien Köln.

Die Ausstellung wird kuratiert von Gertrud Peters und Mischa Kuball.

Transpositions: Artistic Research and Embodied Experience

Lilian Haberer

“Visual art as knowledge production is about engaging with ‘difference and the unknown’ in both ‘artistic’ and ‘social-political’ terms.”

Sarat Maharaj

Was ist künstlerisches Forschen? Eine Suchbewegung, ein Hineinbegeben in ein noch nicht bekanntes Bild-, Gedanken- und Wissensfeld, das mit künstlerischen Mitteln, Recherchen, Archiv- und Quellenmaterial, Gesprächen, Studien etc. bearbeitet und reflektiert wird. Anke Haarmann weist darauf hin, dass beim künstlerischen Forschen eine Verlagerung auf das Tun stattfinde, „von der Poesis zur Praxis“ und zur „Kunst als Wissensproduktion“[1]. Dieses Erzeugen von Wissen beschreibt der Kunsttheoretiker und Kurator Sarat Maharaj im Zitat oben als ein Einlassen auf Unbekanntes, Differentes und Abweichendes, nicht nur in künstlerischer, sondern ebenfalls in politischer Hinsicht. In seiner Auseinandersetzung mit den künstlerischen, forschenden Praktiken betont er zudem, dass das Denken mit und Herstellen von Kunst als Form des Experimentierens und Erfahrens parallel zu anderen Wissenssystemen verstanden werden kann und damit auch eine Vielzahl an Praktiken zulasse. Der Ausgang dieser Recherche und die gewählte Form seien somit ungewiss[2]. Diese, die künstlerischen Arbeiten prägende Offenheit ist sowohl Qualität als auch Herausforderung in der Betrachtung, da mit den verschiedenen medialen Ebenen auch differente Zugänge zu dieser Form des Wissens und Forschens vermittelt werden.

Die von Gertrud Peters und Mischa Kuball kuratierte Ausstellung mit dem pragmatischen Titel degree_show – out of KHM bringt sieben Künstler*innen zusammen, die an Kunsthochschule für Medien studiert haben oder noch dort aktiv sind. Auf den zweiten Blick sind bei aller Verschiedenheit der Ansätze vor allem ihr Interesse an Hintergründen, Ursachen und Zusammenhängen und ihre Verfahren künstlerischen Forschens und Recherchierens das verbindende Element wie auch die mit ihnen verbundenen Suchbewegungen. In dem von Gertrud Peters und Céline Offermans verfassten, prägnanten Begleittext zur Ausstellung werden verbindende Themen wie „die Beziehung zwischen Menschen und Orten“, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und kulturellen Fragen in post-industriellen Zeiten thematisiert, in denen der Umgang mit Natur, mit Arbeit und den vorhandenen Rohstoffen und Mitteln warenförmig geworden und ihre Strukturen wahrnehmbaren Transformationen unterliegen, auf welche die Künstler*innen mit eigenen medialen Reflexionen reagieren.[3] Maßgeblich erscheint jedoch neben diesen Resonanzen der Themen auch der Umgang der Künstler*innen mit Recherche und Hintergrundmaterial, als zentrale Elemente der künstlerischen Video-, Sound, architektonischen und skulpturalen Installationen. Ihre Reflexionen dieser Spuren und künstlerischen Vorarbeiten, die dann in den medienästhetischen Werken ihren Wiederhall finden, lassen sich als ,Transpositionen‘ beschreiben.

Innerhalb der künstlerischen Forschung findet mit dem Transpositionskonzept eine Übertragung zwischen Partitur und Performance, aber vor allem ein Perspektivwechsel statt, der durch diese Positionsverlagerung auch den Umgang mit dem Recherchematerial anbetrifft.[4] Das Konzept stammt von der feministischen Philosophin Rosi Braidotti, aus ihrem gleichnamigen Buch über nomadische Ethiken,[5] der hier übertragen auf das künstlerische Forschen und die Arbeiten, die sich damit beschäftigen, einen anderen Raum öffnet. Dabei ist das Transponieren innerhalb der Musik, der Sprachwissenschaft, in der Medizin und in der Genetik ein übliches Verfahren, das ein Verlagern von Tonarten, ein Austauschen von Wörtern, Organen oder Genen meint. Braidotti beschreibt nun die Transpositionen als eine Verlagerung in der Wahrnehmung, etwa eines vielschichtigen nomadischen Subjekts. So entsteht in der Sicht auf die Dinge eine ,transversale‘ forschende Praxis und damit ein Transfer. Braidotti beschreibt diese Praxis als ein ,Gewebe aus verschiedenen Strängen‘, die in ihrer Vielfalt und Multiplizität einen ,Zwischenraum‘ entstehen lassen, in dem sowohl diskursive, als auch materialbezogene Suchbewegungen entstehen.[6] Eben das Verfahren des künstlerischen Forschens als Transposition ist als Bewegung zu verstehen, die auch unsere Wahrnehmung auf die ästhetischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhänge schärft. So folgt dieser Beitrag der räumlichen und der forschenden Bewegung aller Künstler*innen.

Das Hinabsteigen in die Ausstellung des KIT und das Durchmessen des langen, abfallenden Raumes mit seiner prägnanten, elliptischen Betonarchitektur fordert eine aktive Zeitwahrnehmung heraus. Diese zeigt sich bereits zu Beginn des Ausstellungsparcours mit dem knapp 20-minütigen 4K-Video Dark Matter und dem auf einem Display gezeigten Künstlerbuch Imperial Objects (beide 2020) von Viktor Brim. Auf einer freistehenden Projektionswand im Cinemascope-Format wird nach und nach eine nebelige, post-apokalyptische Landschaft mit anhaltendem Drone-Sound sichtbar, und die Kamera begibt sich auf Spurensuche nach den Maschinen und Anlagen prekärer Lohnarbeit in einer Diamant- und Goldmine in Jakutien sowie in den Sog ihres Kraters. Wie der Titel prägnant andeutet und das Künstlerbuch in Texten mit Hintergrundinformationen, Materialien wie Zeitungsartikel, Postkarten und Abbildungen der Gegend erhellen, ist die Arbeit in der Diamantmine Mir um die Stadt Mirnij ebenfalls eine dunkle, gefährliche und geheime Angelegenheit. Diese wird von der dort maßgeblichen Firma Alrosa, aber auch der Regionalregierung vor Ort und in Moskau geschützt. Denn der Abbau erfolgte zum Teil mit einem von der russischen Regierung veranlassten Atombombentest in Jakutien im Jahr 1993. Radioaktives Material, ebenso wie die Spuren des Schwermetallindustrie und Teile von Raketen haben somit die Gegend zu einer toxischen Landschaft werden lassen. In mehreren, auch farblich abgesetzten Kapiteln fasst das Künstlerbuch Topographie, Geschichte, Gegenwart und Erzählungen rund um die Mine zusammen, gibt Auskunft über Arbeits- und Machtkreisläufe sowie die Umgebung. Berichte der Einheimischen vor Ort von Explosionen, Giftstoffen, sterbenden Tieren, versehrter Natur und von übersinnlichen Phänomenen, einer „höheren Instanz“, werden so zu einem vielstimmigen und lebendigen Narrativ. Bei seinem mehrmonatigen Aufenthalt in Mirnij hat Viktor Brim sowohl Material über die Minenstadt und das Leben dort gesammelt, als sich auf Gespräche mit einem Arbeiter und auf Internetforen konzentriert, in denen auch geheim gehaltene Informationen über die dort stattfindenden Experimente verhandelt wurden. Das langsame Abtasten dieser kargen, rätselhaft-düsteren Landschaft mit der Kamera an der Mine Mir, welches einzig die Maschinen beim Bearbeiten der Abbaukanten des Kraters zeigt, lässt Zerstörung und Gefährdung der Umgebung latent spürbar werden. Im Künstlerbuch hingegen werden die Spuren und Erlebnisse der Menschen vor Ort offengelegt; es verleiht den Filmbildern über die Erzählstränge des Materials eine eigene Tiefe.

Im Anschluss an den Eingangsbereich wird im schmalen Gang, der sich später weitet, auf der rechten Seite die schwarz-weiße knapp elfminütige HD-Videoarbeit von Céline Berger Rare Birds in These Lands (2013) auf einem Monitor mit Funkkopfhörern gezeigt. Die hohen und offenen Innenräume des Goethe-Instituts in Amsterdam werden von einer Akteurin in Businesskleidung für einen Risikoanalyseworkshop vorbereitet, der sich den Chancen und Risiken einer künstlerischen Intervention in einem Wirtschaftskontext widmet. Die Beteiligten, Künstler*innen, Unternehmenspersonen und ein Kurator sollen bald eintreffen, aber das Video zeigt den Aufbau, die leeren Räume danach und in einem Moment die verschlossene Tür während der Veranstaltung. Das englische Voiceover fasst die Perspektivwechsel der Beteiligten während der bereits stattgefundenen Veranstaltung in zwei verschiedenen Stimmen zusammen: in einer Künstlerpersona („he“) und dem Unternehmen („they“). Im gesprochenen Text denkt die künstlerische Seite über die eigene Rolle, das Bilden von Vertrauen sowie die Erwartungen der Unternehmenspersonen nach. Die Wirtschaftsseite erhofft sich Hilfe bei den Soft Skills Kommunikation und Vertrauen und erwartet, das die Problematiken und Konstellationen sichtbar statt messbar werden.

Die Videoarbeit ist während eines Atelierstipendiums der Künstlerin an der Rijksakademie entstanden und verhandelt die Funktion sozialen Kapitals in Arbeitskontexten. Inwiefern kann künstlerische Arbeit als Intervention und Interaktion mit Arbeitenden im Unternehmen Veränderung herbeiführen? Dabei reflektiert Céline Berger während ihrer Recherchen einen prekären Moment im Kunstfeld durch Sparmaßnahmen in niederländischen Institutionen, die auch die Frage der Künstler*innenrolle für die Gesellschaft mit Weiterbildungs- und Optimierungsprogrammen aufbrachte, wie TAFT (Training Artists for Innovation) oder Geen-Kunst, einer Unternehmensberatung zwischen Kunst und Wirtschaft mit Coachings und Seminaren. Berger bedient sie sich beim Workshop einer Methode aus dem Ingenieurwesen, mit dem sie aus ihrem Erststudium vertraut ist, im Nachgang wird diese Praxis jedoch zu einem Analyseinstrument für das Scheitern der Gruppe. Sie hat sich für ihren Ansatz mit der Artist Placement Group befasst, einem britischen Künstler*innenkollektiv, das seit den 1960er Jahren Arbeitsstrukturen hinterfragte und sich mit der Analyse sozialer, ökonomischer Fragen beschäftigte. Statt die Dialoge aus der Risikoanalyse selbst zu destillieren, hat Céline Berger vor allem Randgesprächen der Beteiligten untereinander gewählt, die Gründe für ihr Scheitern liefern, um mit dem Voiceover und einem finalen Brainstorming-Bild ein Gegennarrativ zu den oftmals erzählten Erfolgsstories zu erzeugen. Die Kamera bleibt beim eigentlichen Geschehen bewusst außen vor. So umkreist sie mit der für die Betrachter*innen unzugänglichen Sitzung das Abwesende und folgt der Akteurin hinter den Kulissen. Statt der glatt geschliffenen „Risk-Matrix“ sind es Erwartungen, Vermutungen, Kommentare und Eindrücke, die das Setting vielfältig durchsetzen. Beide Videoarbeiten von Brim und Berger lassen die Betrachter*innen auf andere Art in ihre Umgebungen eintauchen, mit Sound und Voiceover, aber auch durch die Variation in der Betrachtung: direkt vor den Screens sitzend, stehend oder in Bewegung.

Die Raumflucht verjüngt sich von einem zum anderen Ende: beginnend bei der horizontalen Verengung durch das Treppenhaus weitet sich der Tunnel und läuft in der Vertikalen wieder zusammen. Im Übergangsbereich vom schmalen Gang zum breiten Raum mit hoher Decke sind die Skulpturen Speakers (2020) von András Blazsek installiert: Vier rechteckige über Kopf installierte Kuben aus MDF-Platten und geschmolzenem flachen Glas mit einem weißen als 3D-Druck für die Membran realisierten Trichterelement evozieren einander gegenüber oder leicht versetzt platzierte Lautsprecherboxen. An der rückwärtigen Treppenhauswand wurde mit Superposition (2020) aus Holz, Gips und Styropor die Wand zu einem Relief aus dem Profil zwei überlagerter Sinuswellen transformiert, da diese Schallwellen grundlegend für das Hören sind. Die zentrale Form von Apparaturen und Instrumenten zur Schallverstärkung, wie Lautsprecher, hat sich der Künstler angeeignet, da sie Denkfiguren und Metaphern für die verschiedenen, auch modulierten und manipulierten Klänge und ihre Hörerfahrungen stehen; Sound ist hier als Idee und Imagination präsent und da nichts wirklich klingt, wird das aktive Hören des Raumes herausgefordert. Für Blazsek sind die vier Formen des Zuhörens im akusmatischen Feld ein zentrales Element seiner Auseinandersetzung mit Klang und akustischen Apparaturen nach dem Komponisten und Akustiker Pierre Schaeffer, der 1948 die musique concrète begründete und mit seinen Veröffentlichungen zur Musik und Akusmatik richtungsweisend war. Schaeffer versteht im Gegensatz zu den vier Modi des Hörens, bei denen die Schallquelle sichtbar ist, das akusmatische Feld als einen Bereich, in dem jegliche visuelle, messbare oder greifbare Quelle nicht gesehen werden kann, sei es in einer Live-Situation oder durch Lautsprecher. Die vier Modalitäten bei Schaeffer – das reine Hören, das oftmals auch unvorbereitet geschieht, das Hören von verschiedenen Klangeffekten, ohne zu sehen, wie und wo sie erzeugt werden, und die letzten beiden Modifikationen sowohl beim Zuhören, als auch in der Erzeugung des Signals[7] – werden bei András Blazsek zu drei Formen, die er in seinen Skulpturen reflektiert: mit der Sinuswellenwand das reine Hören, mit seinen Lautsprecherskulpturen die verschiedenen Klangeffekte, sowie beim bearbeiteten und veränderten Signal sieht er eine Parallele zu den Körben in seinem künstlichen und digital modifizierten 3D-Druck.

Das Aneignen und Übertragen aus dem Klangbereich ins Visuelle bei Blazsek findet bei der nächsten Arbeit von Anna Ehrenstein im Kulturellen statt: Sie hat im vorderen Teil der breiten und hohen Raumflucht direkt im Anschluss an seine Skulpturen mit A Lotus Is a Lotus handgefertigte Lentikulardrucke auf Dibond und Sublimationsdrucke auf Netzfahnenstoff (Capitalocene Safari Fiber I+II, alle 2019) an beiden Wandseiten installiert. In der Raummitte wurde eine knapp zehnminütige Found-Footage-Videoarbeit auf Monitor an einem Stab mit Glaskieseln platziert. Ehrenstein arbeitet mit der Aneignung von kulturellen Artefakten und der Frage von Originalität oder Fake im Zuge globalisierter Warenzirkulation, in der die Dinge nur noch als Codes oder Souvenirs des Tourismus dienen. Während sich auf dem Screen zwei Videochatfenster, Scratch-, Bild-, Soundeffekte und Icons mit englischen Texten überlagern, die in der Anmutung arabische, orientalische oder asiatische Zeichen imitieren, ist auf den Drucken ein Changieren der ineinander übergehenden Objekte, Bilder und Stoffe zu sehen. Die Künstlerin chattet im Video mit einer Shopping- und Reiseleiterin, die Kund*innen aus allen verschiedenen Kontinenten in China bei ihren Einkäufen berät, aber auch über deren Eigenarten und ihr Interesse an Marken- oder Fakewaren berichtet. Die über den Screen laufenden Texte befassen sich mit Projektionen auf Kulturen, mit Aspekten von Globalisierung und mit der Frage, wie Menschen aufgrund der von ihnen genutzen Waren bewertet und beurteilt werden. Sie befassen sich mit der Sehnsucht nach authentischen Objekten, wie orientalischen Teppichen, und reflektieren kulturwissenschaftliche und postkoloniale Theorien, unter anderem von Arjun Appadurai, Ann Anline Chen und Fang Yang. Anna Ehrenstein hat sich in der Vorbereitung ihres Projekts neben umfangreicher Literatur zur materiellen Kultur und zu dekolonialen Entwicklungen besonders mit Stoffen und Textilien, ihren Exotisierungen, ihren Politiken und der Form ihrer Präsentation in Museen auseinandergesetzt. Auch Bildrecherchen auf Märkten und Interviews mit Guides aus der Tourismusbranche waren für die Künstlerin ebenso maßgeblich, wie ihre Untersuchung in virtuellen Foren, auf verschiedenen Reiseplattformen und der Auseinandersetzung mit 3D-Renderings von Objekten. Sowohl die Wandskulpturen, als auch die Drucke auf Stoff und Dibond regen zum Hin- und Herbewegen, zum Umrunden der Arbeiten und zu verschiedenen Blickperspektiven an.

Dieses Bewegungsmoment beim Betrachten intensiviert sich im hinteren Teil des Raumes mit einer begehbaren Stoffarchitektur, präsenten Techno-Sound-Patterns und einer Choreographie von Søren Siebel feat. Bas Grossfeldt, letzterer ist das musikalische Alter Ego des Künstlers. Der choreographisch-akustische Teil war nur zur Eröffnung rezipierbar. So sind es bei Die Architektur des Unbewussten (2020) jeweils drei lange, waagerechte Dreiecksformen aus schwarzem, durchscheinendem Stoff, die hintereinander gestaffelt von den Wandseiten mit der Spitze zur Mitte hin gespannt sind und so verschiedene schmale Raumzonen entstehen lassen. Zur Eröffnung wurden sie von den sieben Performer*innen Brigitte Huezo, Christoph Spelt, Demetris Vasilakis, Helen Franka Burghardt, Isaac Espinoza Hdrobo, Jimin Seo und Kilian Löderbusch mit einer Partitur aus eckig-objekthaften Körperbewegungen, quasi als Aneignungen von Dingen im Raum, parallel zur Soundebene in Resonanz zum Raum bespielt; die Choreographie wurde von ihnen zusammen mit Søren Siebel als Vokabular erarbeitet, das parallel zum Sound eine bestimmtes Wiederholungspattern aufweist und scheinbar einfache Momente wie Atmen und Gehen transformiert oder dekonstruiert. In Abwesenheit der Bewegungen ist beim erneuten Durchlaufen dieser gleichsam filigranen wie sichtschützenden Architektur in jedem Raumkompartiment eine Tafel platziert, auf denen verschiedene Körperabläufe beschrieben werden, die wiederum auch eine Statik und keine Geste beinhalten können. Wie bei Blazseks Speakers regen sie ebenfalls die Imagination an. In seinem gleichnamigen Künstlerbuch hat Siebel neben Zeichnungen der choreographischen Bewegungen, abstrahierten Partituren und Studien zum Raum sowie den Bewegungen der Körper darin auch die dortigen „Blickbeziehungen“ und Transparenzen der Stoffarchitektur untersucht. Die Konstellation zwischen den drei Bereichen „Raum“, „Körper“ und „Sound“ sind hier maßgeblich mit für ihn relevanten Konzepten verbunden, zum Beispiel sind es unter anderem „Atmosphäre“, „Richtung“, „unsichtbar“, „Unschärfe“, „Objekt“ beim Raum, für den Körper nennt er etwa „Relation“, „Grenze“, „Sequenz“, für Sound zum Beispiel „Nuance“, „Rausch“ und „Intuition“. Der englische Begriff Distortion, Verzerrung, und das Moment der Überschreitung sind zudem zentrale Motive. Damit ist ebenso gemeint, Strukturen und Systeme zu überwinden, wie auch die Möglichkeit, aus den drei Gefügen Raum – Körper – Sound, die in Verbindung stehen, erst im Überschreiten der ihnen eigenen Gesetze, ein Gemeinsames herzustellen oder wie Søren Siebel resümiert: ein „verunbewusstetes Selbstkollektiv“ zu erzeugen. Die Bewegungen der Performer*innen sind im Nacherleben der Stoffarchitektur in ihrer Kantig- und Objekthaftigkeit ebenso gedanklich wie taktil präsent. Aber sie lassen auch den Loop ihrer Abläufe greifbar werden, welche die Betrachter*innen in ihre Bewegungstrance hineinziehen. Diese korrespondieren ebenfalls mit den Rhythmuspatterns der Eröffnungsperformance, die in Kerstin Ergenzingers Installation am Ende der Ausstellung eine Resonanz finden.

Erneut wird die Raumweite mit einer elliptisch zulaufenden Wand sichtbar und gibt den Blick auf den hohen, weißen Kubus des zweiten Treppenhauses frei. An dessen Vorder- und Seitenwand hat Denzel Russell zwei LED-Bildschirme installiert und in seiner 31-minütigen Found Footage-Arbeit Carceral Companies (2020) selbst auf einem Rasperry Pi programmiert. Die Betrachtung fordert eine gewisse Distanz und ebenfalls die schweifende Bewegung vor den Screens mit einer Noppenform aus transparentem Kunststoff heraus, damit sich die gezeigten und geloopten Werbespots verschiedener amerikanischer Firmen in ihrer Modellhaftigkeit einer in warme Farben getauchten, properen Welt entfalten können. Mitunter zeigen sie auch stilbildende Spots mit Werbeikonen wie Kanye West und Beyoncé für Pepsi. Alle Unternehmen profitieren in direkter oder indirekter Weise vom zunehmend privatisierten und einträglichen Geschäftszweig der Gefängnisindustrie, des sogenannten Prison Industrial Complex (PIC). Neben den bekannten großen Firmen The GEO Group und CoreCivic, die Dienstleistungen für die Haft und Resozialisierung anbieten, sind Gesundheits- Telefon-, Verpackungsunternehmen, Banken, und Fluggesellschaften, Automaten-, Überwachungssystem- und Technologiefirmen daran beteiligt wie J.P. Morgan, Blackrock, ATI, SunTrust, American Airlines, HP Inc., Dell, E&T Plastics, PepperBall, ALPA, IBM, Tyson. Weitere, insgesamt 3.000 Firmen verdienen maßgeblich an den dramatisch steigenden Personenzahlen in Haft, die aufgrund turbokapitalistischer Ausbeutungslogik vor allem die in prekären Situationen lebenden Menschen trifft, wie etwa sozial und politisch Benachteiligte, African Americans, people of color, Migrant*innen und Geflüchtete. Russel hat sämtliche Firmen des PIC recherchiert und für sein Projekt einen täglich wachsenden Ordner auf einem USB-Stick angelegt, um die beteiligten und die von privaten Haftanstalten profitierenden Unternehmen zu dokumentieren. Parallel dazu hat der Künstler die Werbevideos der Firmen auf Onlineplattformen wie YouTube, Internet Archive etc. zusammengestellt, quasi als Videoplaylist, um mit Blick auf die Marketingseite dieser Firmen die Bildrhetoriken und Werbeästhetiken zu untersuchen, mit denen sie zu überzeugen suchen. Neben seinen Recherchen folgt er der NGO Worth Rises, die sich intensiv mit einer Auflösung des Gefängnisindustrie-Komplexes und seiner Profite befasst und die von ihm ausgebeuteten Menschen unterstützt. Aufschlussreich sind für Russell ebenfalls Videos mit der Sängerin Beyoncé, die sowohl als Popidol ein Role Model ist, aber auch als eine unabhängige Stimme für das Selbstbewusstsein und die Rechte der Black People fungiert. Mit der Pepsi-Werbung unterstützt sie jedoch möglicherweise unbewusst den Zulieferer der Automatenindustrie und den PIC. Für Denzel Russell sollen diese Werbesequenzen die Rolle von Vorbildern hinterfragen und das Bewusstsein für diese zum Teil unsichtbaren Verbindungen erzeugen, bei denen jede/r Konsument*in durch die Veränderung des eigenen Verhaltens etwas bewirken kann. Vergegenwärtigen die Found Footage-Elemente bei A Lotus Is a Lotus und Carceral Companies spezifische Ästhetiken der Onlinekommunikation und der Werbewelt, so schärfen sie gleichsam den Blick für die manipulative Macht von Bildkulturen, ihren Gesellschaften, Abhängigkeitsverhältnissen und Verstrickungen.

Parallel dazu öffnen sich die Ohren im letzten, vertikal zusammenlaufenden hohen und schmalen Raumteil des KIT, um ergänzend zu der Bewegungsarchitektur bei Siebel eine Klangarchitektur im Zu- und Nachhören zu erfahren. Kerstin Ergenzinger hat mit Pluvial (2018) eine selbstgebaute und programmierte, fragile Soundinstallation zwischen Raumwolke, Skulptur, Instrument und experimentellem Setting geschaffen. Sie besteht aus vier von der Decke herabhängenden Clouds mit insgesamt 80 beweglichen Aluminiumröhren unterschiedlicher Länge, die mit Silikonmembranen abgedeckt, oberhalb kleine schwingende Messingbecken aufweisen und mit Nitinoldrähten verbunden sind. Diese bestehen aus einer Formgedächtnis-Legierung und reagieren auf Wärme, fungieren quasi als Instrumentenseite. Mit dem String-Drum-Prinzip werden die kinetischen Nitinoldrähte und Resonanzröhren durch Impulse in Schwingung versetzt. In bestimmten Abständen breiten sich Sounds von Regen mit anschwellenden Rhythmen und in unterschiedlicher Intensität im Raum aus, die an weißes Rauschen erinnern. Die räumliche Umgebung ist für die Künstlerin dabei ein Teil der Installation, und wie sich lokal erzeugte Geräusche und Klänge ausbreiten, inwieweit Raum auch ein Instrument sein kann, sind für sie eine zentrale Frage. Experimentiert hatte Ergenzinger mit Nitinoldraht bereits in Studien zur Sehnsucht, dem String-Drum-Prinzip in The Cosmic and the Affective im öffentlichen Raum, jedoch erzeugt sie dort beständige Soundlandschaften. In Pluvial hingegen entfalten sich die Regensounds in Raum und Zeit in zufälligen Intervallen, ihre Spannungsmpulse werden durch die variierende Intensität der Niederschlagsmessungen moduliert, von kaum hörbaren bis zu raumfüllenden Rhythmen. Diese erfordern ähnlich wie in András Blazseks Evokation des Hörens ein aktives Zuhören und Zeit des Aufenthalts. Zwischen 2016 und 2018 hatte Kerstin Ergenzinger ein Stipendium am Centre for Advanced Studies in Arts and Sciences der UdK und der Einstein Stiftung in Berlin und forschte dort zusammen mit Tänzer*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, etwa mit der Medientheoretikerin Eleni Ikoniadou. Sie untersuchten Rhythmus, Zeit- und Raumtheorien, aber auch mikropolitischen Praktiken und makropolitische Fragen über die Medien und Disziplinen hinaus. Daraus entstand die gemeinsame Publikation What if it won’t stop here? (Archive Books). Die disziplinübergreifende Untersuchung von Mikrostrukturen zwischen den Sinnen und Medien der Erfahrung ist Kerstin Ergenzinger dabei ein zentrales Anliegen. Auf Sitzsäcken liegend mit Blick in die Soundclouds werden die mitunter fast unhörbaren und dann wieder fühlbaren und mächtigen Klangformen und -rhythmen Teil einer immateriellen aber sono-taktilen und intensiv erfahrbaren Landschaft. Damit schließt der Ausstellungsparcours wieder an den Anfang der Ausstellung an mit einer die Textur der unwirtlichen Landschaft taktil abtastenden Kamera in Dark Matter.

Es entsteht ein sich ständig wandelnder Raumeindruck, vor allem durch das Bespielen mit audiovisuellen, künstlerischen Arbeiten und den aktiven Austausch mit ihnen im Innehalten, Umrunden und Mäandern zu einer vielschichtigen, verkörperten Zeiterfahrung. So wird dieser, parallel zu einer von Autos genutzten Tunneldurchfahrt entstandene Überschussraum, der Geschwindigkeit und Stillstand als mögliche Bewegungsformen gleichermaßen in sich trägt, zu einem weiteren und verbindenden Akteur der Ausstellung. Dies lässt sich für das besondere Setting des KIT allgemein feststellen, doch erst die spezifische und jeweils differierende Form des künstlerischen Umgangs mit dieser dominanten Raumfolie, die verschiedene Stimmen und Blicke erzeugen, aber auch Verbindungen über Themen und Fragen herstellen, fordert die taktile und synästhetische Erfahrung, insbesondere bei dieser Gruppenausstellung heraus.

Das Prinzip der Transpositionen als ein verbindendes Element dieser unterschiedlichen Herangehensweisen, die sich in ihrer forschenden Praxis und der Suchbewegung verbinden, wird im Gehen und Erwandern dieses Raumparcours nicht nur zu einer synästhetischen und taktilen medialen Erfahrung. Vielmehr lassen die künstlerischen Arbeiten im Umgang mit gesellschaftlichen Themen, den mit ihnen verbundenen Strukturen, Räumen und Denkweisen eine Vielstimmigkeit und Multiplizität erkennen, die im Bearbeiten und Zusammenstellen des von ihnen herangezogenen Materials die eigene Wahrnehmung sensibilisiert und eine Öffnung, Zwischenräume der Erfahrung und Reflexion hervorruft.

  1. Anke Haarmann, „Verschiebungen im Feld der Kunst“, in: Einundreissig, Ins Offene. Gegenwart:
    Ästhetik: Theorie, 18/19 (2012), S. 77–82, hier S. 77.
  2. Sarat Maharaj, „Unfinishable Sketch of ,An Unknown Object in 4 D’: Scenes of Artistic
    Research”, in: Annette Balkema/Henk Slager (Hg.), Artistic Research, New York 2004, S. 39–58,
    hier S. 39, 45.
  3. Vgl. Céline Offermans/Gertrud Peters, degree_show – out of KHM, KIT Düsseldorf, Begleittext zur Ausstellung, 2020, S. 1–4, hier S. 1.
  4. Den Begriff verhandelt eine Publikation des Orpheus Institute, einem Ort künstlerischer Forschung für zeitgenössische Musik, siehe Michael Schwab, „Introduction“, in: ders. (Hg.), Transpositions: Aesthetico-epistemic Operators in Artistic Research, Ghent 2018, S. 7–21, hier S. 7–9.
  5. Vgl. Rosi Braidotti, Transpositions. On Nomadic Ethics, Cambridge 2006.
  6. Ebd., S. 4–5.
  7. Pierre Schaeffer benennt als erstes das natürliche Hören (écouter), dann das akustische Wahrnehmen des Klangs (ouïr) und drittens das qualifizierte Zuhören (entendre), als Viertes auch noch das Verstehen und Einordnen der Bedeutung des Sounds (comprendre). Pierre Schaeffer, Treatise on Musical Objects. An Essay across Disciplines [1966], Oakland 2017, S. 73–85. Zum akusmatischen Feld, S. 65–66.

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Viktor Brim, Dark Matter, 2020, Filmstill
Céline Berger, Rare Birds in These Lands, 2013, Foto: Ivo Faber
Rare birds in these lands, 10min 50’, HD, black+white, stereo, English
András Blazsek, „Speakers“ und „Superposition“, 2020, Foto: Ivo Faber
Anna Ehrenstein, Capitalocene Safari Fiber I, 2019
Anna Ehrenstein, A Lotus is A Lotus (Installation), 2019, Foto: Ivo Faber
Søren Siebel feat. Bas Grossfeldt, Die Architektur des Unbewussten, 2020, Foto: Ivo Faber
Søren Siebel feat. Bas Grossfeldt, Die Architektur des Unbewussten, 2020, Foto: Katja Illner
Denzel Russell, Carceral Companies, 2020, Foto: Ivo Faber
Kerstin Ergenzinger, Pluvial, 2018, Foto: Ivo Faber
Kerstin Ergenzinger, Pluvial
loop – raum für aktuelle Kunst, B-Part Raum Berlin, 2019
Kerstin Ergenzinger, Pluvial, 2018, Foto: Andreas Schimanski